�AR�AMBA, �UBAT 29, 2012
Aus Yatýrca zu sein, gleicht einem Fluch: Das Dorf am Ende der Welt irgendwo im Osten der Türkei gehört dem Clan von Scheich Gido und damit zu euphemistisch Dorfschützer genannten paramilitärischen Verbänden und zum Dunstkreis der Hikmetçi-Sekte. Kein Hahn kräht danach, als eine Sechsjährige aus Yatýrca in der ersten Nacht aus dem Etagenbett im Internat sich zu Tode stürzt, und Derdâ, die schon elf ist, fühlt sich zwar insgeheim verantwortlich, wies sie der Kleinen doch statt der unteren die obere Pritsche zu, schweigt aber, sie stammt ja selbst aus dem gottverlassenen Flecken. Als ihre Mutter sie kurz darauf aus der Schule nimmt, glaubt sie, eine Woche später zurückzukehren, versteht erst Jahre später das unerwartete Winken der gefürchteten Mitschülerin, die weiß: Keine, die aus dem Unterricht geholt wurde, kam je zurück.
Auch Derdâ wird nicht zurückkehren, wird sich innerhalb weniger Wochen als blutjunge, geschundene Braut in London wiederfinden, in einem vom islamistischen Orden einer mächtigen, in unglaubliche, im Laufe des Buches Stück für Stück aufgedeckte transnationale Machenschaften verstrickten Splittergruppe beherrschten Wohnblock, der die nächsten fünf Jahre ihr Gefängnis sein wird. Doch Misshandlungen durch den Ehemann und totale Isolation von allem, was Leben ausmacht, schaffen es nicht, sie zu brechen. Als ihr mit 16 die Flucht gelingt, hat sie von Stanley Englisch gelernt, der ihren Hilferuf falsch verstand, sie letztlich aber doch rettete, und ist in der britischen Pornoszene ein Star, zumindest ihre Augen, denn mehr war von ihr, der Domina im schwarzen Tschador, niemals zu sehen …
Yatýrca ist ein fiktives Dorf, ebenso wie die fanatischen Hikmetçis, denen Suizid als größtmögliche Sünde gilt, und ihr obskurer Drogen- und Menschenhandel, die mafiöse Kickbox-Clique von Derdâs Ehemann und Peiniger, ebenso wie der Nachbar mit seiner Sadomaso-Vorliebe, sie alle sind atemberaubende Erfindungen eines Schriftstellers, gehören zur Komposition seines neuen Romans – könnten aber gleichwohl real sein, alles und alle stammen mitten aus dem Leben. Nicht zuletzt diese Ambivalenz zwischen Realität und Fiktion, zwischen brennender Sozialkritik und rücksichtsloser Grausamkeit, zwischen – nicht unbedingt menschenfreundlichem – Idealismus und entsetzlichem Hakan Günday (ntv)Scheitern machen Az, den im April 2011 erschienenen siebten Roman des jungen türkischen Autors Hakan Günday , zu einem der außergewöhnlichsten Werke der letzten Jahre.
Ein Buch über Verzweiflung und Gewalt, über Leben ohne Hoffnung, Einsamkeit und Leidenschaft, Sucht und Liebe, die man in den hier vorgeführten Varianten kaum so nennen mag, zugleich ein Lehrstück über Schuld und Sühne jenseits aller Gesetze und gesellschaftlichen Konventionen, über die Zähigkeit des Menschen, über seine Fähigkeit, sich anzupassen und die schlimmst denkbare Situation noch zum Keim für Neues, für Entwicklung und Wende zu machen.
Tabus mag es in der postpostmodernen Welt der Literatur kaum noch geben, dennoch bricht Günday im Handumdrehen sämtliche gewohnten oder auch nur für möglich gehaltenen Denkschemata auf und um. Wo kein Fünkchen Hoffnung war, setzt eine Schicksalswende neue Horizonte frei, und sei es bis zur nächsten Straßenecke. Mit jedem Detail, und das Buch lebt von einer Myriade herausragend beobachteter und präzise geschilderter Einzelheiten, verblüfft Günday stets von Neuem. Keinen Satz möchte man missen in diesem mit ruhiger Hand durchkomponierten Meisterwerk. Dem Autor gelingt es vollendet, den Rhythmus seines Textes der jeweiligen Lebenssituation seiner Protagonisten anzupassen. Wie es bei einer Dhikr-Übung islamischer Zirkel unmöglich ist, sich dem gemeinsamen Atemrhythmus, der zur gemeinsamen Ekstase als Gottesanbetung führen soll, zu entziehen, gelingt es nicht, sich dem Puls der Erzählung zu entziehen, man ist zum Mitatmen und damit Miterleben verdammt.
Was auf den ersten Blick als exzessive Ballung von Zufällen anmuten mag, zeigt beim näheren Hinsehen, wie klein die Welt jedes Einzelnen ist, wie sehr ein jeder versponnen ist in ein Netz aus sichtbaren und unsichtbaren Fäden von etwas, das sich wohl nur Schicksal nennen lässt. Zwei Lebensgeschichten führt Günday zusammen: Als Derdâ und Derda sich auf einem Istanbuler Friedhof begegnen, sind beide elf Jahre alt und erwarten nichts mehr vom Leben. Keiner ahnt, dass ihr weiteres Schicksal – sie in London, er in Istanbul – sie über ein Vierteljahrhundert später vereint, vereinen muss, um eines türkischen Schriftstellers willen, dem, zu Lebzeiten verkannt und viel zu jung gestorben, Günday mit diesem Roman ein Denkmal setzt: Oðuz Atay. Sein Hauptwerk Oguz AtayTutunamayanlar (The Disconnected), von mehreren individualistischen Autoren der jüngeren Generation in der Türkei als Vorbild genannt, ist bislang unübersetzt, gilt gar als unübersetzbar. Analphabet Derda lernt um dieses Buches willen Lesen, widmet sein weiteres Leben diesem – längst verstorbenen – Autor, auf dessen Spuren er sich macht und um dessentwillen er bereit ist zu morden und es auch tut. Dass das ehemalige Friedhofskind, das nie eine Schule besucht hat und für das Bücher nichts als Waren sind, zentnerschwer zudem, bei seinem ersten Job außerhalb der Friedhofsmauern ausgerechnet in einer Kette von Raubdruckvertreibern landet, gehört zu einer Vielzahl einzigartiger Einfälle, die das Buch zum Pageturner werden lassen. Ein Kunstwerk sollte es sein, dass das Leben seiner Helden verändert, sagt Autor Günday im NTV-Interview. Oðuz Atay und seine Werke seien in seinem Roman das Einzige, was „rein und unschuldig“ ist.
Starke intertextuelle Bezüge zu Atay sind auch ohne vorangegangene Lektüre seines Werks deutlich. Günday ist ein Meister der Intertextualität, auch und gern zu den eigenen Büchern. Derda war weit davon entfernt, Atay zu verstehen, doch er fühlte ihn. Ist nicht für eine solche Empathie das Nichtverstehen nachgerade Voraussetzung?, fragt Autor Günday. Sanfte Exkurse und Einschübe führen in pornographischen oder derben Szenen aufglimmende Gedanken an Banalität zuverlässig ad Absurdum.
Günday beschönigt nicht und nichts, schont weder seine Protagonisten noch die Leserschaft, er romantisiert nicht, überzeichnet nicht, Opfer ist letztlich nur, wer sich selbst als eines sieht. So handelt Derdâ mit 16 so überraschend wie selbstbewusst unter dem Ganzkörperschleier: „Der einzige Weg zu zeigen, dass sie kein Opfer war, zumindest sich selbst.“ Ihr Mann schlägt sie, „weil es ihm schwerfiel zu sprechen“. Unprätentiös bringt Günday immer wieder Grunderfahrungen und scheinbar unerklärliche gesellschaftliche Phänomene auf den Punkt. „Gewalt ist ein Kommunikationsmittel in diesem Buch“, sagt Günday. Er habe zeigen wollen, dass jene, die Gewalt ausüben, und jene, die sie erfahren, dieselben Personen sind, nur zu verschiedenen Zeiten.
Menschen, die morgens sich über das Erwachen grämen, weil es nichts gibt, für das zu leben sich lohnt. Ein Junge, der sich brutalst der Aufgabe entledigt, seine dahingesiechte Mutter zu beerdigen. Aber auch Menschen, die ihr Leben einer Sache widmen, so sehr, dass sie bereit sind, sich das Herz herausnehmen und den Gegenstand ihrer Verehrung statt seiner einpflanzen zu lassen. Wie es in einer mysteriösen Klinik 90 km nördlich von Manila auch Derda geschieht, der fortan Tutunamayanlar buchstäblich in sich trägt. Eine pensionierte Krankenschwester, die bereit ist, einem jungen Mädchen im Drogenentzug und für den Rest ihres Lebens die Mutter zu ersetzen, die sie verkaufte, als sie elf war.
Derdâ und Derda, zwei auch im Türkischen ungewöhnliche Namen, die vor allem anderen „dert“ – Kummer – assoziieren. Kein Name ist Zufall in Gündays Büchern oder nur insofern, als einem Menschen eben ein bestimmter Name, ein bestimmtes (!) Schicksal zufällt. Der Titel, natürlich, Programm: „az“ bedeutet wenig oder Wenige. Als Epigraph dient eine Zeile aus einem Gedicht des politischen Lyrikers Nevzat Çelik, der zudem zu Beginn von Gündays Karriere bei seiner Verlagssuche eine Rolle spielte: „Sicher sind wir nicht viele und können nicht auf Seiten derer stehen, die viele sind.“ Als Derda mit 16 Oðuz Atay entdeckt und seine Initialen – ein A in einem großen O – mit Rot an Schaufenster und Mauern sprüht, entdeckt er plötzlich, dass andere oder doch O.A.ein anderer das gleiche Zeichen malt. Zum ersten Mal im Leben überkommt ihn das Gefühl, nicht allein auf der Welt zu sein. Nicht allein und doch wenige zu sein, nicht große Geschichte zu schreiben, nicht viel im Leben zu erwarten zu haben, mehr aber als nichts: wenig eben, az. Zugleich liegt in diesem bisschen „az“ – und damit auch im Buch Az – die ganze Welt, das ganze Alphabet, wie Derdâ in ihrem Brief an Derda anmerkt. Der Brief bringt beide zusammen, nach vierzig Jahren, für vierzig Jahre, die Autor Günday allerdings keine Seite mehr wert sind. Vierzig steht im Orient stellvertretend für „viel/e“. Vierzig Jahre Seite an Seite wären für Az zu viel gewesen.
Ein Buch wie ein Fausthieb, brutal, drastisch, erbarmungslos, außer Atem lässt es den Leser zurück, eine Geschichte, deren Details nachhallen, deren Messerstiche weiter schmerzen. Ein Buch, das die großen Themen unserer Zeit anspricht, Islamismus und Terrorismus, Diskriminierung, Unterdrückung und Emanzipation, Kriminalität, Migration und Identitätsfragen, ein Buch, über das zu sprechen, auch zu streiten sein wird.
Hakan Günday : Az. Istanbul: Doðan Kitap, 2011.
Kaynak : http://angeschwemmt.wordpress.com
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